Konzept


Über die gruppenanalytische Supervisionsgruppe für ethnografisches Feldforschen

 

Am Anfang steht die Methode des ethnografischen Feldforschens. Sie gibt ein weitreichendes Versprechen, das angesichts der komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, besticht: einen Zugang zu den 'Welten' zu eröffnen, in denen Menschen leben. Oder anders formuliert: Das ethnografische Feldforschen ermöglicht eine Annäherung an alltagskulturelle Praxen von anderen Menschen als einem selbst - und an die mit diesen verknüpften, diesen zugrundeliegenden Weisen, die Wirklichkeit zu erleben.


Zwei große Wirkmächte, zwei Selbstverständlichkeiten, werden in diesem Ansatz außer Kraft gesetzt. Erstens, die eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit für die einzige und für allgemeingültig zu halten. Und zweitens, den Kategorien eines wissenschaftlichen Diskurses gegenüber der Eigenheit und dem Eigenleben der Untersuchungsgegenstände den Vorrang einzuräumen.  - Da die Außerkraftsetzung dieser wirkmächtigen Konventionen nicht von alleine stattfindet, muss sie von den Forschenden getan werden. Das ist anstrengend.

 

Noch weitere Anstrengungen sind spezifisch für das ethnografische Feldforschen. Die damit einhergehende Erschütterung eigener Überzeugungen; hiermit wiederum einhergehende Widerstände, die sich in Arbeitsstörungen niederschlagen können; nie verstummende Fragen - also: Unsicherheiten - bezüglich des Festhaltens von Daten; Schwierigkeiten des Schreibens, die zunächst ja Schwierigkeiten des Auswertens, also des Verstehens sind.

Alle diese Herausforderungen haben ihre gemeinsame Ursache darin, dass beim enthografischen Feldforschen die Person, die die Forschung durchführt, mit ihrem eigenen Erleben, ihrer eigenen Subjektivität als Instrument des Forschens dient. Das ist zwar prinzipiell auch bei anderen Forschungsansätzen der Fall, insbesondere bei qualitativ-empirischen. Aber nie so fundamental, so umfassend, so weitreichend und andauernd wie hier. Besonders greifbar wird dies im Moment der Datengenerierung: Was das Subjekt in der Situation des 'teilnehmenden Beobachtens' wahrnimmt, kann später im Feldforschungstagebuch aufgeschrieben und damit überhaupt zum Datum werden. Was es nicht wahrnimmt, kann niemals Datum werden.


Diese Subjektgebundenheit des ethnografischen Feldforschens erfordert einen hohen Einsatz: das Selbst. Ihm und all den genannten Anstrengungen trägt die gruppenanalytische Supervisionsgruppe für ethnografisches Feldforschen Rechnung, indem sie den Teilnehmer*innen einen Raum für Selbsterfahrung eröffnet. Diese stellt keinen Selbstzweck dar, das Feld gerät nie aus dem Blick. Aber während andere Interpretationsgruppenmethoden (auch psychoanalytisch orientierte) in Form des Datenmaterials nur auf das Untersuchungsfeld schauen, geht es in diesem Ansatz wesentlich um das Subjekt, das forscht.


Gerade auf diese Weise ist die gruppenanalytische Supervisionsgruppe für ethnografisches Feldforschen eine Methode, die Forschende bei der Gestaltung und Auswertung ethnografischer Feldforschungen unterstützt.

 

Beim Setting handelt es sich um eine Anwendung der Gruppenanalyse nach S.H. Foulkes. In seinem Sinne bildet die Gruppe das Medium des Arbeitens, indem sie eine 'frei-fließende' Kommunikation eingeht. Das heißt, man sagt, was man denkt und fühlt und knüpft damit an die Resonanzen an, die das in die Gruppe eingebrachte Feldmaterial und die Aussagen anderer Gruppenteilnehmer:innen in einem ausgelöst haben.


Denn den Ausgangspunkt des Arbeitens bildet konkretes Feldforschungsmaterial, das pro Sitzung jeweils von einer Teilnehmer:in eingebracht wird. Assoziatives Schweifenlassen von Gedanken, subjektive Wahrnehmungen, Emotionen und spielerisches Formulieren haben hier Raum und ermöglichen es, das Feldmaterial nicht nur in seinen manifesten Aussagen zu begreifen, sondern darüber hinaus auch in seinen impliziten, latenten Gehalten zu entfalten.


In der Gruppe ergibt sich so ein vielstimmiger Austausch darüber, wie das eingebrachte Feldforschungsmaterial individuell von den Teilnehmenden erlebt wird. Für die Forscher*innen tun sich dadurch neue Perspektiven auf das eigene Datenmaterial auf. Die besprochenen Situationen, die Interaktionspartner und das eigene, subjektive Erleben rücken in ein neues Licht. Oder wahrscheinlich ist es sogar richtiger zu sagen: Das Subjekt selbst verändert sich. Denn berührt werden vom Gruppengeschehen auch die Subjektpositionen, also: die Identifikationen der Forschenden, ihre Beziehungen zum Feld ebenso wie ihre Verortungen in wissenschaftlichen Diskursen und ihr Platz in der Kultur der Universität, im... Leben. In der Beziehung zu den anderen Gruppenteilnehmer*innen werden diese erfahrbar - und wandeln sie sich auch.

 

Hervorheben möchte ich noch folgende Aspekte der Gruppenarbeit:

  • Die Forschenden werden darin unterstützt, ihr Datenmaterial umfassend auszuwerten.
  • Interaktionelle, beziehungshafte Aspekte der Feldforschung werden der Wahrnehmung zugänglich.
  • Emotionale Erlebnisse können artikuliert und in der Gruppe geteilt, belastende Erfahrungen gemeinsam bearbeitet werden.
  • Es eröffnen sich Zugänge zu sperrigen Seiten des Materials und zu problematischen Aspekten der Feldforschung.
  • Triangulierungsmöglichkeiten werden deutlich, die Interpretationen stärken und den Auswertungsprozess insgesamt voran bringen.

Die das 20. Jahrhundert durchziehenden Versuche, Ethnologie und Psychoanalyse zusammen zu bringen, bilden den intellektuellen Zusammenhang, in dem die Methode verortet ist. Hierbei ist besonders die Tradition der Züricher Ethnopsychoanalyse zu nennen und speziell die ethnopsychoanalytische Deutungswerkstatt, die Maya Nadig an der Universität Bremen entwickelt und mit uns Studierenden praktiziert hat. In die Methode eingeflossen sind außerdem meine Erfahrungen mit der Arbeitsweise der Tübinger Supervisionsgruppe für Feldforschende unter Leitung von Brigitte Becker, die auf dem Ansatz der Balint-Gruppe basiert. Einen weiteren Bezugspunkt besitzt der Ansatz im gruppenanalytischen Supervisionsverständnis von Marita Barthel-Rösing, in dessen Zentrum ein Verständnis für die inter-kontextuelle Übertragung von Konflikten steht, die ins Unbewusste verdrängt sind und sich in der analytischen Gruppenarbeit inszenieren.

Alle diese Ansätze nehmen das subjektive Erleben der Forschenden ernst, indem sie es - psychoanalytisch - als Gegenübertragungsreaktion auf das Feld begreifen.


Derzeit arbeiten zwei Gruppen, die ich leite, in der beschriebenen Weise, in Bremen und in Freiburg. Die Gruppe in Bremen findet monatlich statt, die Gruppe in Freiburg arbeitet drei mal im Jahr im Wochenendblockformat. Eine Gruppe, die über einige Jahre in München bestand und von der hier die Fotos aus der Katholischen Hochschulgemeinde in der Leopoldstraße, dem EineWeltHaus und dem Tagungsraum der Aidshilfe München stammen, endete 2023.

Grundsätzlich werden neue Teilnehmer*innen jeweils zum Jahreswechsel in die Gruppen aufgenommen.

 

Jochen Bonz, Januar 2024